Berührungs- mangel

Das Thema Berührung und Berührungsmangel bekommt in Wissenschaft und Praxis noch nicht lange die Aufmerksamkeit, die es verdient. Eine, die es schon eine ganze Weile fest im Blick hat, ist Dr. Elisa Meyer.

Vorstellung

Die Geisteswissenschaftlerin hat sich im Rahmen ihres Philosophiestudiums mit der Kulturgeschichte des Kuschelns beschäftigt und dieses inzwischen zu ihrem Beruf gemacht. Über das von ihr gegründete Unternehmen „Die Kuschel Kiste“ bietet ein speziell ausgebildetes Team bundesweit professionelle Sessions mit Therapie-Charakter an. Ihr geballtes Know-How steckt in dem Buch „Berührungshunger: Kuscheltherapie als Antwort auf unseren modernen Lebensstil“.

Exklusiv für „Länger besser leben.“-Teilnehmende beantwortet die Expertin zehn Fragen über ihre Arbeit und die gesundheitsfördernde Kraft des Kuschelns.

Fragen

Bei angenehmer Berührung wird das Hormon „Oxytocin“ ausgeschüttet. Es wird nicht umsonst Kuschel- oder Bindungshormon genannt. Neben den positiven Auswirkungen auf den Körper hat Oxytocin die Eigenschaft, uns in eine gute, entspannte Stimmung zu versetzen. Probleme erscheinen uns nicht mehr so überwältigend, Konflikte lösen sich in Wohlgefallen auf. Der Stresspegel (also Cortisol) wird gesenkt. Wir werden stressresistenter. Warum? Wir fühlen uns nicht mehr allein, sondern mit anderen Menschen verbunden. Der Rückhalt aus der Gruppe stärkt uns mental, sodass wir auch allgemein selbstbewusster werden. Es fällt uns zum Beispiel auch leichter, um Hilfe zu bitten.

Berührungsmangel hat zwei wichtige Komponenten. Wir fühlen uns auf der einen Seite einsam, was wiederum Stress auslöst. Auf der anderen Seite sind wir prinzipiell gestresster, da wir einen höheren Cortisolspiegel haben ohne regelmäßige Berührung.
Nach einer längeren Zeit ohne Berührung schwindet unser Selbstbewusstsein, das normalerweise von Oxytocin und dem Zusammenhalt mit anderen Menschen gestärkt wird. Wir verlieren unsere Lebensfreude, unsere Motivation, unsere Resilienz.
Eine Berührung ist biologisch gesehen die Rückversicherung, dass alles gut ist oder wird und wir in Ordnung sind. Das etabliert sich bereits beim Säugling, sobald er auf der Welt ist und von der Mutter gehalten wird. Ohne diese Sicherheit stirbt er. Erwachsene sind natürlich etwas zäher und kommen länger ohne Berührung zurecht. Auf Dauer ist der menschliche Körper aber nicht auf Isolation ausgelegt und beginnt auch Warnsignale zu senden: Ersatzhandlungen, Gefühl von Leere, latente Unzufriedenheit und so weiter, bis hin zu einem Rückzug in sich selbst. Spätestens dann wäre eine Kuscheltherapie eine gute Lösung.

Menschen sind Säugetiere und sind nach der Geburt auf Berührung angewiesen, um zu überleben. Aber nicht nur das: Wir sind auch soziale Wesen. Das bedeutet, dass wir wie Bonobos oder andere Affenarten immer in einem Verband leben, der uns das Leben leichter macht. Das Leben in der Eigentumswohnung, als Single, mit einem IT Job, ist biologisch gesehen eine Katastrophe und entspricht nicht unserer Natur. Wenn die Berührungsrate auf null Berührungen täglich sinkt, ist das für unseren Körper und unseren Geist eine absolute Ausnahmesituation. Das merkt man an der Rastlosigkeit, Langeweile, Suchtverhalten, Angstattacken und anderen Gefühlen, die dann entstehen können. Durch Corona kennen wir wohl alle diesen „Isolationskoller“.
Manche Menschen haben schlechte Erfahrungen mit Berührungen gemacht oder wurden früh vernachlässigt und isolieren sich daher lieber, als wieder mit diesen negativen Gefühlen in Kontakt zu kommen. Das ist ein Schutzmechanismus und wichtig. Allerdings ist das auf Dauer auch nicht die beste Lösung, eine Therapie wäre hier eigentlich ein Weg aus der Sackgasse heraus.

Ich hatte in meiner Praxis immer wieder regelrechte „Kuschelwellen“, immer wenn ein Lockdown aufgehoben wurde. Die unfreiwillige Isolation und die Maßnahmen erzeugten ein vermehrtes Bedürfnis nach Körperkontakt. Wer privat niemanden hatte, kam zu mir und meinen Kuschler:innen. Dieses Jahr kommen alle Menschen, die es zwei Jahre lang ganz „ohne“ ausgehalten haben, jetzt aber nicht mehr können. Meine Kuschelpraxis platzt fast!

Berührung kann grob vereinfacht drei Wirkungen haben. Einmal kann sie entspannen, wie wir es von der Massage zum Beispiel kennen und wie es bei der Kuscheltherapie gewollt ist. Dann gibt es sexuell erregende Berührungen, beziehungsweise sexuell intendierte Berührungen. Schlussendlich gibt es die unangenehmen, schmerzhaften, unerwünschten Berührungen. Je nach Kategorie wird das Gehirn unterschiedlich aktiviert. Maßgeblich für die Unterscheidung ist die Intention des Berührenden und die Auffassung des oder der Berührten. Ich kann als Kuscheltherapeutin zum Beispiel absichtslos und entspannend berühren, das Gehirn meines Klienten ist aber der Meinung, dass die Berührung erregend war. Solche Missverständnisse kommen häufig vor und sind nichts Schlimmes, solang darüber geredet wird. Konsens ist in meinem Beruf die oberste Prämisse. Wir klären über die verschiedenen Wirkungen von Berührung auf und fordern dazu auf, die Wirkung auf den eigenen Körper genau wahrzunehmen und dann zu kommunizieren, was angenehm und was unangenehm ist. So kann zwar mal eine Berührung „danebengehen“, aber das kann dann recht schnell korrigiert werden. Ein unverkrampfter Umgang damit würde auch unserer Gesellschaft gut tun.

Zuallererst: Du bist nicht allein. Es gibt keinen Grund, dich dafür zu schämen. Du kannst überlegen, ob das Kuscheln mit einer fremden (aber dafür sehr netten) Person für dich in Frage kommt, und dann einen Termin für eine Kuschelsession bei uns ausmachen. Aber auch alle anderen Berührungsangebote wie Massagen und so weiter sind sehr zu empfehlen, solang man sich damit wohlfühlt. Man muss bedenken, dass es viele Menschen im Dienstleistungs- und Gesundheitssektor gibt, die aktuell Single sind, und sich mit diesen Angeboten über Wasser halten. Besonders wenn man viel gibt, braucht man auch viel zurück, um den Energiehaushalt stabil zu halten. Manche lösen die Situation mit Haustieren oder anderen kuscheligen Aktivitäten wie Kuschelpartys, oder besorgen sich eine schwere Decke.
Absolut empfehlenswert für kurzfristige Notfälle, also wenn der Stress einem über den Kopf steigt, ist die Selbstberührung im Sinne von Selbstmassage oder Selbststreicheln. Hier kann man erst einmal alles Mögliche testen, was sich gut für einen selbst anfühlt. Dazu gibt es auch eine Anleitung von mir auf YouTube, falls du ein wenig Inspiration brauchst.

 

Eine Kuschelsession beginnt immer mit einem Gespräch. Wir unterhalten uns über Grenzen, Wünsche, Berührungsmangel. So bekommen wir ein Gefühl füreinander und können einen sicheren Rahmen etablieren. Dann am Kuschelort beginne ich mit einer ersten, harmlosen Berührung. Sie soll nicht überfordern und ein erstes Vertrauen herstellen. Wir beginnen mit einer vom Klienten bevorzugten Kuschelpositionen, die einen ersten Kontakt leichtmacht. So hangeln wir uns an den Positionen entlang, bis wir so eng und intensiv kuscheln, wie es erwünscht ist. Nähe und Geborgenheit haben hier meistens Priorität. Die Grenze liegt dort, wo sexuelle Erregung hinzukommt. Es kann also ruhiges Kuscheln, aber auch Massieren, Raufen oder einfach nur Streicheln sein. Am Ende der Stunde zwitschert der Wecker und wir haben ein kleines Nachgespräch. Die nachhaltige Wirkung  des Kuschelns wird mein zweites Buch behandeln. Es wird demnächst erscheinen.

Eine gewisse Vertrautheit ist für die Ausschüttung von Oxytocin immer nötig, ansonsten wird Cortisol ausgeschüttet. Diese Vertrautheit lässt sich je nach Klient:in leichter oder schwerer herstellen. Es gibt auch Stufen der Vertrautheit. In einer Kuschelstunde beginnt der oder die Klient:in sich in der Regel nach zehn Minuten zu entspannen. Eine vollständige Entspannung ist bereits nach 30 Minuten möglich. Hier kommt es auf die Vorerfahrung an. Mir als Kuscheltherapeutin obliegt die Aufgabe, diese vertrauensvolle Atmosphäre zu schaffen, durch meine eigene Ausstrahlung, die Gestaltung des Raumes, gewisse Regeln, die Kommunikation und natürlich durch die Berührung selbst. Die Klient:innen kommen tendenziell regelmäßig, sodass sich das Vertrauen mit jeder Stunde mehr aufbauen kann.
Prinzipiell sind diese Vertrautheit und Sympathie aber leichter herzustellen als allgemein angenommen. Vielen fehlt einfach die Erfahrung, mit fremden Menschen in Kontakt zu kommen. Die Berührungserfahrung der meisten Menschen in unserem Kulturkreis beschränkt sich auf einen engen Kreis an Vertrauten. Diese Distanz ist aber leicht aufzulösen, da der Tastsinn unser basalster Sinn ist, mit dem wir am schnellsten kommunizieren können. Wenn der Verstand noch am Analysieren ist, weiß die Haut schon längst, ob ich dieser Person, die mich gerade berührt, vertrauen kann oder nicht.

Leider nicht. Kuscheln ist genau wie Sport auf Regelmäßigkeit angewiesen. Genau wie das sportliche Training für die Muskeln sollte auch das entspannende Kuscheln mindestens zweimal die Woche stattfinden. Der Oxytocinspeicher, den ich gerne als Tank bezeichne, muss regelmäßig aufgefüllt werden. Besonders dann, wenn der Tank durch stressige Ereignisse geleert wird. Erwachsene können es auch schon mal ein paar Wochen ohne aushalten, das aber auch nur, wenn man einen entspannten Job hat und sich regelmäßig selbst mit Oxytocin versorgt, zum Beispiel durch Selbstberührung. Am effektivsten wird der Tank aber durch Fremdberührung gefüllt, denn so ist die Erfahrung seit unserer Kindheit geprägt. Nur so kann man auch mal komplett loslassen und die Verantwortung für einen Moment abgeben.

Hier fällt mir als allererstes die Selbstberührung ein. Diese kann man an verschiedenen Stellen in den Alltag einbauen. Morgens nach dem Aufwachen eine kleine Gesichtsmassage. Nach dem Duschen kräftig abrubbeln und eincremen. Haare kämmen ist nicht nur gut für die Kopfhaut, sondern auch super angenehm. Sitzt man auf der Arbeit lange in einer Haltung? Dann ist Aufstehen und Strecken angesagt! Die Dehnung tut immer gut, besonders wenn viel Druck auf mir lastet. Gibt es eine Situation, die besonders stressig ist und wo ich mich sehr konzentrieren muss? Selbstmassage - zum Beispiel an den Schläfen - hilft dem Gehirn bei der kognitiven Leistung und senkt den Stresspegel. Nach der Arbeit ein wenig Sport oder Yoga, dabei massiert der Körper sich selbst von innen. Beim Warten in der U-Bahn oder beim Fernsehschauen, also immer wenn der Körper gerade nichts zu tun hat, kann man sich zum Beispiel den Nacken kneten und die Verspannungen des Tages rauslösen. Oder man gönnt sich selbst eine kleine Handmassage. Das ist sehr unauffällig und sehr angenehm. Vor dem Schlafengehen kann ich noch eine kleine Körpermediation machen, ein sogenannter Körperscan, und alle Stellen wahrnehmen, die sich noch verspannt anfühlen. Mit diversen Gerätschaften oder einer Shaktimatte kann man diese Stellen noch einmal mit einem angenehmen Druck entspannen.
Gibt es in deinem Leben einen Partner, kann dieser gewisse Übungen übernehmen. Trotzdem ist es gut, sich im Notfall auch um sich selbst kümmern zu können.
Neben dieser entspannenden Berührung ist natürlich erotische (Selbst-)Berührung nicht zu vernachlässigen. Diese schüttet andere Hormone aus, die für die Gesundheit und das Wohlbefinden aber auch wichtig sind. Wichtig ist nur, dass wir diese nicht als Ersatz für die entspannte Oxytocinberührung nehmen.


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Noch genießen wir die letzten Sommertage - doch das Jahr geht mit großen Schritten voran. Bald kommt der Herbst. Den sollten wir jedoch nicht als Schreckgespenst sehen, das uns hinter der nächsten Ecke erwartet. Bei der "Länger besser leben."-Aktion Herbstgesund erfahren Sie, wie Sie Ihrem Körper bei der Umstellung helfen können und wie Sie fit und gesund durch die kalte Jahreszeit kommen. Das Schwerpunktthema in diesem Jahr ist die mentale Gesundheit